Dienstag, 26. Oktober 2010

Kontraste

Bariloche, Montag, 18. Oktober 2010

Das erste mal das es ganz groß und offensichtlich hervortritt, was in meinem Vertrag irgendwo steht; Argentinien, Entwicklungsland.
Ich muss nach Bariloche, 130 km, wo man immer hin muss wenn es etwas offizielles, Papierkram eben, sogenannte "Tramites", zu erledigen gibt. Ich will ein Motorrad kaufen, und das erfordert ein unglaubliches Ausmaß an Erklärungen, Beglaubigungen, Erlaubnissen, Erfassungen.
Unterwegs bin ich mit Martín, einem Schulvater, der als Architekt in Bariloche arbeitet. Nachdem wir ein "Tramite" in Rekordzeit erledigt haben - 1:0 für uns gegen die Bürokratie - wird uns auf dem nächsten Amt erklärt wir bräuchten weitere Papiere für das nächste "Tramite". 1:1, und Martín muss sich um Kunden kümmern.
Auf dem Weg zu den Baustellen durchqueren wir die ganze Stadt.
Ein Trip durch alle Ebenen der Zivilisation, manifestiert im Stil der Behausung. Aus dem völlig touristischen Zentrum, geprägt von Einflüssen schweizerisch-ländlicher Architektur, römischen Säulenbauten und kunsthandwerklichen Holzverzierungen, geht es durch mittelständische Wohngebiete, dann folgen heruntergekommene Wohnblocks. Die Straße führt über eine Anhöhe und plötzlich erstreckt sich vor uns eine Weite Ebene, begrenzt auf der anderen Seite durch steil aufragende, noch schneebedekcte Berge. Auf der Ebene hat das unbändige Wachstum der letzten Jahre einen Haufen Wellblechhütten ausgeschüttet, dazwischen einige zerbröselnde Betonbauten gestreut und ansonsten Holzverschläge, Baracken und wuchernde Wäscheleinen aus dem Boden schießen lassen. Martín diskutiert am Telefon über die Ausrichtung eines Jacuzzis. Ich brauche ein bisschen bis ich mir sicher bin mich nicht verhört zu haben, und schaue nochmal aus dem Fenster.
Am Ende der schnurgeraden Straße die uns durch all das führt türmt sich ein neuer Berg auf. Nicht sonderlich hoch, dafür lang, sehr lang, und in ständiger Auflösung begriffen. Einige Plastiktüten, die vom Wind auf die Windschützscheibe gepresst werden, geben die Antwort; Die Mülldeponie Bariloches. Durch die Luft flattert weiteres Gezeugs, und die Umgebung sieht aus als hätte jemand gerade eben den gesamten Vorrat der Stadt an Plastiktüten hier verteilt.
"Some years ago it was worse". Einziger Kommentar Martíns zu dem Anblick. "Welcome to the Third World". Lachen.
Unpassender Zeitpunkt für diese Ankündigung, denn nach zweihundert Metern biegen wir ab, eine kurze Strecke durch flach bewaldetes Gebiet, dann nähern wir uns hohen Zäunen, Schranken, einem Checkpoint, besetzt mit vier Securityleuten. Elektronische Chipkarten, in der Ausgestaltung um ein vielfaches komplexer als der Argentinische Personalausweis, und Martíns bekanntes Gesicht bewegen die uniformierten Männer dazu die Schranken zu heben.
"Areleuquen". Darunter: "Golf and Polo Club". Aha.
 "Velocidad maxima: 35 km/h". Ein bisschen muss ich schmunzeln. Doch Martín hält sich dran - ich verstehe die Welt nicht mehr. Denn der Hinweg war mit regelmäßigen Geschwindigkeitsüberschreitungen um das drei- bis fünffache verlaufen. Und gleich darauf präsentiert sich mir das erste Radargerät auf argentinischem Boden.
So langsam hab ich eine Vorstellung davon  wo wir hier sind; im Paralleluniversum der reichen, polospielenden, golfenden, weder Dritter noch Erster Welt angehörenden Argentinier. Erfolgreiche Geschäftsleute, die wenigsten aus der Region, die meisten aus Buenos Aires - auf der Flucht vor Kriminalität, schlechter Luft oder der Steuerfahndung. Wer weiß. Die Häuser die hier gebaut werden, nach strengen Vorlagen des Clubs in Holz und Stein, bewegen sich alle zwischen ein und zwei Millionen Dollar meist nur im Sommer bewohnt. Eine kühle, anonyme Atmosphäre liegt über den perfekt gestutzen Golfrasen. In den vier Stunden die wir von Baustelle zu Baustelle kurven erblicke ich keinen einzigen Anwohner, nur Bagger, Bauarbeiter und eine Quad-Patrouille, die mich freundlich darauf hinweist, dass das Aufnehmen von Fotos untersagt sei. Nachdem die letzten Details für den Jacuzzi geklärt sind bekomme ich eine ausgiebige Führung mit dem Pickup durch die Umgebung, die mir schon vertraut scheint; Ausgedehnte, vom Wind gepeitschte Seen, schroffe Berge und Wälder riesiger, immergrüner Bäume. Wieder habe ich Argentinien ein bisschen besser kennengelernt - und immerhin ein Tramite für mein Motorrad erledigt =)

Montag, 11. Oktober 2010

Cajon de Azul


Sonntag, 10.10.2010

Eine der vielen berühmten Touren der Umgebung, deren Ausgangspunkt leider nur über kilometerlange Schotterpisten zu erreichen ist, ein Albtraum zum Wandern, aber zu viert lässt sich auch ein Taxi nehmen; den meine fürsorgliche Gastmutter hat mich mit Lital, Orit und Wusmat, drei Israelis, verkuppelt.
Nach einer guten halben Stunde gilt es zwei Brücken zu überqueren: Fingerdicke Stahlseile, daran, mit Küchendraht aufgehängt, morsche und nicht immer vollzählige Holzbrettchen. Schilder warnen vor einer maximalen Tragfähigkeit von 150 kg. Beim Betreten schwankt und schwingt das Brückchen meterweit zu allen Seiten aus, aber mit viel Geschrei kommen alle drüben an.
Um beim folgenden Aufstieg näher an der Schlucht zu bleiben, weichen wir vom vorgegeben Weg auf einen hübschen Dschungeltrampelpfad ab (Ich spiele meine Einflussnahme auf diese Entscheidung bewusst herunter). Einige Weggabelungen weiter, bei denen sich die Größe des Trampelpfädchens stets halbiert hat, strengen wir all unsere Spurenlesekenntnisse an um die großen dicken Haufen neben dem Weg als Kuhkacke zu identifizieren. Wir sind also im Straßensystem eines womöglich sehr aggressiven Wildkuhstamms verloren. Bei den israelischen Damen ist damit der Spaß vorbei, aber einige Minuten (oder vielleicht war es eine Stunde) später sind wir wieder auf dem Hauptweg.
Der weitere Weg führt uns durch Wälder riesiger Südbuchen, manchmal schaue ich ganz genau hin um zu checken ob nicht doch manche von ihnen Ents sind und sich langsam bewegen oder unterhalten. Dann öffnet sich die Schlucht und das türkisblaue Wasser des Rio Azul schlängelt sich um ausgeschliffene Felsblöcke herum und an weitläufigen Sandbänken vorbei, die uns zum verweilen anflehen. Aber wir bleiben eisern und bald darauf erreichen wir auch den eigentlichen Spot; die Schlucht ist hier fast 30 Meter tief, aber oben wo wir stehen nur ein bis zwei Meter breit. Alles ganz atemberaubend und so, aber nicht so schön wie unsere in Sonne getauchten Felsbänke und türkisen Buchten weiter flussabwärts. Und außerdem haben wir Hunger, kehren also um und machen unter einer weiteren Hängebrücke Mittagspause. Die Schockstarre, als ich mich von den knarzenden Brettchen der Brücke in neun Grad kaltes Wasser plumpsen lasse, taut die Sonne erst Minuten später wieder auf.
Auf dem weiteren Rückweg planen wir als Abschluss des Tages unser argentinisches Dinner. Wunderschöne Wildnis, und das beste Fleisch der Welt; zwei der wenigen Dinge die Argentinien richtig gut kann.